Mit dem Begriff „Assessment“ fassen wir in diesem Abschnitt alle Maßnahmen zusammen, die dazu dienen, krankheitsbedingte Veränderungen von Körperstrukturen und -funktionen sowie deren Auswirkungen auf Aktivitäten und Partizipation (ICF) zu erfassen und darstellbar zu machen.
Das Assessment dient
- der Therapieplanung,
- der Therapieerfolgskontrolle
- und ist eine wesentliche Grundlage für die Beurteilung des Leistungsvermögens und für prognostische Aussagen.
Das Assessment des Leistungsvermögens erfolgt immer indikations- bzw. erkrankungsspezifisch. Die indikationsspezifischen Leitlinien geben Hinweise darauf, welche Dimensionen zu beachten sind.
Leitfragen für die Auswahl der zu untersuchenden Aspekte
- Welche Veränderungen in Körperstrukturen und -funktionen kann ich bei dem Krankheitsbild des Rehabilitanden erwarten? Und wie wirken sich diese auf die Leistungsfähigkeit aus? Hier liefern das ICF-Modell, die ICF-Core-Sets und die indikationsspezifischen Leitlinien relevante Hinweise.
- Welche Einschränkungen beschreibt der Rehabilitand selbst? ( Anamnese)
- Welchen Anforderungen muss der Rehabilitand an seinem Arbeitsplatz genügen?
( Arbeitsplatzbeschreibung des Rehabilitanden, Fragebögen) - Welches Fähigkeitsniveau muss der Rehabilitand für den allgemeinen Arbeitsmarkt haben?
Basierend auf den Antworten können dann geeignete Untersuchungsmethoden ausgewählt werden.
Frau S., 46 Jahre, Krankenschwester, Fibromyalgie (psychosomatische Reha-Einrichtung)
Die Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen nennen folgende erwerbsrelevanten Funktions- und Tätigkeitsbereiche, die beeinträchtigt sein können:
Konzentrations- und Reaktionsvermögen, Ausdauer, Sorgfalt, selbständiges zielgerichtetes Arbeiten, Umstellungs- und Anpassungsvermögen, Verantwortung für Personen und Maschinen, Überwachung und Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge; pädagogische / soziale / therapeutische Tätigkeiten; vorwiegend Publikumsverkehr; besondere Reisetätigkeit und Außendienst (DRV Bund (2012), S. 128).
Frau S. beschreibt, dass sie morgens viel Zeit brauche, um sich zu normal bewegen zu können. Sie habe das Gefühl, nicht mehr so viel Kraft zu haben, sie ermüde schnell. Sie könne sich nicht gut konzentrieren und mache Fehler. Bereits mittags habe sie das Gefühl, vollkommen erschöpft zu sein, die Schmerzen in Armen und Beinen seien dann schon schlimm.
Anforderungen am Arbeitsplatz: Frau S. ist Stationsleitung in einer allgemeinchirurgischen Station. Sie ist Ansprechpartnerin für Ärzte, Pflegepersonal, Verwaltung und Patienten, sie koordiniert die Schichtpläne, überwacht den Pflegeprozess etc.
Anforderungen des aktuellen Arbeitsplatzes: Flexibilität/Umstellungsfähigkeit, Verantwortung für Personen, selbstständiges zielgerichtetes Arbeiten.
Kontextbedingungen: Die Station ist unterbesetzt, der Krankenstand ist hoch, ständig muss der Dienstplan angepasst werden.
Mögliche Assessments:
- Beobachtung in verschiedenen Therapiesettings (Ergotherapie, Selbstbehauptungstraining, …)
- Mini ICF APP Beurteilung durch das Reha-Team
- Neuropsychologische Testung von Konzentration und Planungsfähigkeit
- Arbeits- und Belastungserprobung
Assessment-Formen, die eingesetzt werden können
FCE-Systeme (Functional Capacity Evaluation) erheben systematisch die individuelle Fähigkeit einer Person, häufig vorkommende physische Arbeitsplatzanforderungen zu bewältigen. Dies erfolgt über standardisierte Leistungstests.
Bekannte Beispiele für FCE-Systeme sind ERGOS® (eine geschützte Bezeichnung für ein computergestütztes Arbeitsplatzsimulationssystem zur Erfassung komplexer körperlicher Funktionen und Fähigkeiten) und EFL (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit nach Isernhagen). Eine ausführlichere Darstellung zu FCE-Systemen finden Sie auf der Seite Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation.Die bekanntesten Vertreter sind IMBA (Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt) und MELBA (Merkmalsprofile zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit). MELBA bildet psychologische Funktionsaspekte ab, IMBA stärker physische Funktionsaspekte. Beide Verfahren werden auf der Seite Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation ausführlicher dargestellt.
- ICF-Core-Sets:
In den letzten Jahren sind für verschiedene Erkrankungen sogenannte ICF Core-Sets entwickelt worden. Darin werden die wichtigsten Körperfunktionen und Aktivitäten und Partizipation zusammengefasst, die bei einer bestimmten Erkrankung beeinträchtigt sein können.
Für die Core-Sets können Dokumentationsbögen elektronisch heruntergeladen werden.
Beispiel: Auszug aus dem ICF-Core-Set-Dokumentationsbogen „Depression“ - MINI-ICF-APP:
Das Mini-ICF-APP ist ein Kurzinstrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei Psychischen Erkrankungen. Personen werden in 13 Fähigkeitsdimensionen beschrieben. Sie können je Dimension in 5 Ratingkategorien eingestuft werden. Diese reichen von „keine Beeinträchtigung“ bis „volle Beeinträchtigung“. Für das Rating werden alle verfügbaren Informationen über die Person genutzt.
Die Präsentation
Beschreibung von Fähigkeitsbeeinträchtigungen mit dem Mini-ICF-APP in der Psychosomatik erläutert ausführlich die Anwendung des Mini-ICF-APP (Download mit freundlicher Genehmigung der Autorin).
Die Deutsche Rentenversicherung stellt die Broschüre Exploration mittels Mini-ICF-APP mit Praxisbeispielen für die Anwendung des strukturierten Interviews mit dem Mini-ICF-APP bereit.
In Ergänzung zum Mini-ICF-APP wurde das Mini-ICF-APP-Work entwickelt. Damit soll erfasst werden, welche der 13 Fähigkeitsdimensionen in welchem Ausmaß für einen spezifischen Arbeitsplatz benötigt werden. Zusammen mit dem Mini-ICF-APP wird dann auch ein Profilvergleich möglich. Nähere Informationen zum Mini-ICF-APP-Work finden Sie inzwischen auf der Seite PsyDix.org.
Das Mini-ICF-APP ist bei der Hogrefe Testzentrale zu beziehen.
Das Mini-ICF-APP-Work kann von der Seite PsyDix.org bezogen werden.
Die Arbeits- und Belastungserprobung kann für viele Zwecke nützlich sein: Diagnostik, Erfassung und Modifikation der Selbsteinschätzung des Rehabilitanden, Entwicklung beruflicher Perspektiven, Workhardening und nicht zuletzt das Assessment der erwerbsbezogenen Leistungsfähigkeit.
Eine wenig systematisch genutzte Assessmentmöglichkeit ist die strukturierte Beobachtung der Alltagsbewältigung des Rehabilitanden im Setting der Reha-Einrichtung. Dauer und Häufigkeit von Verhaltensbeobachtungen sind wesentliche Punkte, die zur Validierung beitragen (ansonsten besteht die Gefahr der Übergeneralisierung einmalig gezeigten Verhaltens).
Achten Sie auf folgende Verhaltensmerkmale:
- Wie geht die Person mit Anforderungen um, die an sie gestellt werden? Zeigt sie
- Anstrengungsbereitschaft,
- Anpassungsfähigkeit,
- Durchhaltefähigkeit,
- Flexibilität,
- Konzentrationsvermögen,
- eine strukturierte Herangehensweise,
- Entscheidungsfähigkeit,
- Belastungen körperlicher oder psychischer Art,
- eine Neigung, sich selbst zu überfordern und Belastungsgrenzen zu ignorieren?
- Umgang mit Schmerz: Vermeider (fear avoidance) vs. „fröhliche Durchhalter“;
- Soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit des Rehabilitanden;
- Konsistenz zwischen verbalen Angaben des Rehabilitanden und spontan gezeigtem Verhalten (spiegeln sich die Beschwerden des Rehabilitanden auch in seinem spontanen Verhalten wider?).
Informationen zu (teilweise frei zugänglichen) Assessmentverfahren im Internet
- Eine Übersicht zahlreicher Testverfahren mit Beschreibung und Angaben zu Bezugsquellen bietet die Seite Assessment-Info.
- Ausführliche Beschreibungen verschiedener Assessmentinstrumente und deren Anwendung finden Sie auf der Seite Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation.
- Die DRV stellt eine Liste psychologischer Testverfahren (S.62) zur Verfügung.
- Eine Auflistung von Assessmentinstrumenten für andere Berufsgruppen wird in den Manualen zum Curriculum „Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung im Reha-Team“ beschrieben.
- Auch in den folgenden Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung werden Assessmentverfahren vorgeschlagen oder direkt zur Verfügung gestellt:
Beurteilung bei chronisch entzündlicher Darmkrankheit (CED),
Beurteilung bei Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen,
Beurteilung bei neurologischen Krankheiten,
Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen.
Stand 11/2022