In der Rehabilitation kann in der multidisziplinären längsschnittlichen Beobachtung des Rehabilitanden über die gesamte Dauer der Reha in der Regel die Konsistenz der berichteten und gezeigten Beeinträchtigungen geprüft werden. Hinzu kommen die Informationen aus den Vorbefunden.
Vorhandene Inkonsistenzen können ein Hinweis darauf sein, dass der Rehabilitand kein authentisches Verhalten zeigt – sie müssen es aber nicht.
Im Bereich der Begutachtung bei psychischen Erkrankungen gibt es vermehrt Arbeiten, die sich mit dem Thema der Beschwerdenvalidierung und dem Erkennen von unauthentischem Verhalten beschäftigen. So wurden Kriterienkataloge zur Beurteilung der Konsistenz erarbeitet. Am besten ausgearbeitet – wenn auch nicht unwidersprochen (Boone, 2007; Widder, 2017) – sind die Kriterien von Slick, Sherman & Iverson (1999). Diese wurden für vorgetäuschte kognitive Störungen entwickelt, das allgemeine Prinzip dahinter lässt sich jedoch auch auf andere Bereiche übertragen.
Kriterium |
Erläuterung |
A. Identifizierung eines bedeutsamen externalen Störungsgewinns |
Eingangskriterium, das für die Feststellung einer Vortäuschung (Simulation oder Aggravation) positiv sein muss |
B. Hinweise auf Antwortverzerrungen, die aus der neuropsychologischen Testdiagnostik stammen |
B1. Unter-Zufall-Antworten in Alternativwahlverfahren
B2. Weitere auffällige Ergebnisse in empirisch gut gestützten Beschwerdenvalidierungstests und -indikatoren
B3. Diskrepanzen zwischen den Testdaten und bekannten Mustern von Hirnfunktionen/Hirnschädigungen
B4. Diskrepanzen zwischen den Testdaten und dem beobachtbaren Verhalten
B5. Diskrepanzen zwischen den Testdaten und zuverlässigen Informationen von dritter Seite
B6. Diskrepanzen zwischen den Testdaten und anamnestischen Informationen aus der Aktenlage
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C. Hinweise auf Antwortverzerrungen, die aus den gelieferten Angaben des Probanden und der Selbstbeurteilung stammen |
C1. Diskrepanzen zwischen den gelieferten Angaben und anamnestischen Informationen aus der Aktenlage
C2. Diskrepanzen zwischen der Beschwerdenschilderung und den bekannten Mustern von Hirnfunktionen/Hirnschädigungen
C3. Diskrepanzen zwischen der Beschwerdenschilderung und dem beobachtbaren Verhalten
C4. Diskrepanzen zwischen der Beschwerdenschilderung und zuverlässigen Informationen von dritter Seite
C5. Hinweise auf eine Übertreibung oder Erfindung psychischer Dysfunktionalität, u. a. aus gut validierten Fragebogenskalen
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D. Ausschluss anderer Ursachen |
Die Verhaltensweisen, die unter B und C aufgeführt sind, dürfen nicht vollständig durch psychiatrische, neurologische oder Entwicklungsfaktoren erklärt werden. |
Von Slick, Sherman, & Iverson (1999) entwickelte Kriterien zur Diagnose einer vorgetäuschten kognitiven Störung, entnommen aus Merten (2014), S. 30. |
Sicherheitsgrad der Feststellung vorgetäuschter kognitiver Störungen |
Erfordernis |
Sicher |
Kriterien A, B1 und D müssen erfüllt sein. |
Wahrscheinlich |
Kriterien A und D sowie mindestens zwei der Kriterien B2‑B6 oder eins der Kriterien B2‑B6 und mindestens eines der Kriterien C1‑C5 müssen erfüllt sein. |
Möglich |
a) Kriterien A und D sowie mindestens eines der Kriterien C1‑C5 müssen erfüllt sein oder
b) die Kriterien für eine sichere oder wahrscheinliche Vortäuschung sind erfüllt, aber Kriterium D ist nicht erfüllt.
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Diagnostische Sicherheit der Feststellung vorgetäuschter kognitiver Störungen nach Slick, Sherman, & Iverson (1999), entnommen aus Merten (2014), S. 31. |
Bianchini, Greve & Glynn (2005) haben eine Anpassung der Slick-Kriterien für simulierte schmerzbezogene Funktionsstörungen (SSFS) entwickelt.
Kriterium |
Erläuterung |
A. Hinweise auf bedeutsame externale Anreize
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Mindestens ein klar identifizierter substantieller externer Anreiz für die Übertreibung oder Vortäuschung von Symptomen. |
B. Hinweise aus der körperlichen Untersuchung des Patienten auf Übertreibung oder Vortäuschung einer körperlichen Einschränkung
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B1. Verdacht auf suboptimale Leistungsanstrengung in einem oder mehreren gut validierten Testverfahren (z. B. Jamar Grip Test).
B2. Diskrepanz zwischen subjektiv berichtetem Schmerzempfinden und physiologischen Parametern.
B3. Nichtorganische Befunde: Symptome, die nicht mit bekannten physiologischen Mechanismen (z. B. Waddell-Zeichen) oder den medizinischen Befunden übereinstimmen.
B4. Diskrepanz zwischen den gezeigten körperlichen Fähigkeiten bei der Untersuchung und in unbeobachteten Situationen.
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C. Hinweise aus neuropsychologischen Testverfahren auf Übertreibung oder Vortäuschung einer kognitiven Beeinträchtigung
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C1. Sichere negative Antwortverzerrung. Leistung unter der Zufallswahrscheinlichkeit (p < .05) bei einem oder mehreren Zwangswahlverfahren zur Messung von kognitiven oder Wahrnehmungsfunktionen.
C2. Wahrscheinliche Antwortverzerrung. Auffällige Ergebnisse bei gut validierten Beschwerdenvalidierungstests.
C3. Diskrepanz zwischen neuropsychologischen Testergebnissen und bekannten Hirnfunktionsmustern sowie der dokumentierten Krankengeschichte des Patienten.
C4. Diskrepanz zwischen Testergebnissen und beobachtetem Verhalten in einem Ausmaß, das die Übertreibung einer kognitiven Funktionsstörung nahelegt.
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D. Hinweise aus Angaben des Patienten zu Beschwerden oder Einschränkungen
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D1. Überzeugende Inkonsistenz. Diskrepanz im Verhalten des Patienten zwischen beobachteten und unbeobachteten Situationen.
D2. Diskrepanz zwischen selbst berichtetem und dokumentiertem Verlauf.
D3. Berichtete Symptome weisen Diskrepanzen zu bekannten Mustern physiologischer oder neurologischer Funktionsweisen auf.
D4. Selbst berichtete Symptome stimmen nicht mit beobachtetem Verhalten überein.
D5. Hinweise aus standardisierten psychologischen Verfahren, dass die Person ihren gegenwärtigen Zustand grundlegend falsch dargestellt hat, z. B. durch Übertreibung körperlicher Symptome oder Übertreibung oder Bagatellisierung psychischer Symptome.
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E. Ausschluss anderer Ursachen |
Die Verhaltensweisen unter B, C und D können nicht vollständig durch psychiatrische, neurologische oder Entwicklungsfaktoren erklärt werden. Das Vorhandensein einer objektiv dokumentierten Erkrankung schließt die Diagnose einer SSFS nicht aus. |
Anpassung der Kriterien von Slick et al. (1999) für die Diagnose simulierter schmerzbezogener Funktionsstörungen nach Bianchini et al. (2005), eigene Übersetzung und Zusammenfassung.
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Diagnostische Kategorien für die Diagnose einer simulierten schmerzbezogenen Funktionsstörung |
Sicher |
1. Vorliegen eines substantiellen externen Anreizes (Kriterium A);
2. Eindeutige Hinweise auf Vorsatz (Kriterium C1 oder D1);
3. Verhaltensweisen, die den Kriterien für eindeutigen Vorsatz entsprechen (C1 oder D1), können nicht vollständig durch psychiatrische, neurologische oder Entwicklungsfaktoren erklärt werden (Kriterium E).
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Wahrscheinlich |
1. Vorliegen eines bedeutsamen externen Anreizes (Kriterium A);
2. Zwei oder mehr Arten Hinweise auf „wahrscheinlichen“ Vorsatz aus Kriterium B (B1-B5), Kriterium C (C2-C5) und/oder Kriterium D (D2-D6);
3. Verhaltensweisen aus den notwendigen Kriterien der Gruppen B, C und D können nicht vollständig durch psychiatrische, neurologische oder Entwicklungsfaktoren erklärt werden (Kriterium E).
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Möglich |
1. Vorliegen eines bedeutsamen externen Anreizes (Kriterium A);
2. Die Hinweise sind nicht ausreichend für die Diagnose einer wahrscheinlichen SSFS:
- Nur eine Art Hinweise auf Vorsatz aus Kriterium B (B1-B5), Kriterium C (C2-C5) und/oder Kriterium D (D2-D6) ODER
- Eine oder mehrere Arten Hinweise auf Vorsatz aus Kriterium B (B1-B5), Kriterium C (C2-C5) und/oder Kriterium D (D2-D6) ODER
- Ausreichende Hinweise für eine Diagnose der SSFS, aber Kriterium E ist nicht erfüllt.
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Diagnostische Sicherheit der Diagnose einer simulierten schmerzbezogenen Funktionsstörung nach Bianchini et al. (2005), eigene Übersetzung und Zusammenfassung.
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In der Begutachtung der Funktionsbeeinträchtigungen bei psychischen Störungen werden zur Erfassung unauthentischen Verhaltens Beschwerdenvalidierungstests eingesetzt. Sie beruhen in der Regel darauf, dass der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben für den Rehabilitanden schwer einzuschätzen ist. Sie enthalten Aufgaben zu kognitiven Funktionsbereichen (z. B. Gedächtnis) und ggf. Fragen zu Persönlichkeitsaspekten.
Beschwerdenvalidierungstests erlauben keine direkte Überprüfung der Authentizität von Beschwerden. Sie lassen Rückschlüsse auf das allgemeine Testverhalten zu, d. h. auf die Kooperationsbereitschaft in einer Testsituation. Sie geben so Hinweise, inwieweit die Ergebnisse weiterer Testverfahren zur Beurteilung des Funktionsvermögens herangezogen werden können. Beschwerdenvalidierungstests können eingesetzt werden, um zu überprüfen, ob ein Rehabilitand bewusst ein unzutreffendes Bild seiner Leistungsfähigkeit zeichnet.
Der Einsatz von Beschwerdenvalidierungstests erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik.
Bitte beachten Sie: Für sich genommen sind Beschwerdenvalidierungstests nicht ausreichend, um Fragen der Konsistenzprüfung zu beantworten; sie können daher keinesfalls als alleinige Beurteilungsgrundlage dienen. Vielmehr sollte ein multimodales Assessment durchgeführt werden, zu dem neben Beschwerdenvalidierungstests immer auch eine Konsistenzprüfung im interdisziplinären Team gehört. Diese sollte die Aussagen des Rehabilitanden ebenso einbeziehen wie Vorbefunde, Fremdanamnesen und Verhaltensbeobachtung.